Unser Rückblick auf das erste Jahr dieser Ratsperiode – Haushaltsrede 2022

Silke Friedrich

GRÜNES Selbstverständnis ist es, Rheine aus dem politischen Modus des Irrealis der Vergangenheit heraus zu holen: „Hätten wir doch damals…!“ Heute in Corona-Zeiten heißt das „vor die Welle kommen!“. Es geht ja nicht mehr nur darum, misslungene Stadtentwicklung – wie gesichtslose Garagen im Erdgeschoss in einigen Teilen unserer Innenstadt – oder den Abriss historischer Bausubstanz zu beklagen. Es geht darum, Rheine zu einer Stadt zu entwickeln, in der auch nachfolgende Generationen noch Freiraum für Gestaltung haben.

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom vergangenen Samstag beschreibt Carolin Emcke die Umsetzung von Robert Habecks ambitioniertem Programm zum Klimaschutz als eine notwendige Verwandlung des Handelns und Denkens von uns allen: „Die ökologische Transformation gelingt nur, wenn sie kommunikativ inklusiv, politisch partizipativ und sozial solidarisch gestaltet wird. Dazu braucht es …auch Modelle der demokratischen Willensbildung, die mit überprüfbaren, robusten Informationen gespeist werden.“

Nach unserer Überzeugung gelingt – oder scheitert die sogenannte Große Transformation in den Kommunen, auch in unserer Stadt. Dass auch wir neue „Modelle der demokratischen Willensbildung“ brauchen, haben alle Fraktionen formuliert. Im GRÜNEN Kommunalwahlprogramm steht die Forderung nach einer umfassenden „Beteiligungskultur“. Doch die Etablierung von Beteiligung der Bürgerinnen und Bürgern beruht auf vier wichtigen Voraussetzungen in der politische Arbeit:

  1. Definierte Beteiligungsprozesse
  2. Klare gemeinsam erarbeitete Ziele
  3. Information und Transparenz
  4. Förderung der Diskursfähigkeit

Wie ist es damit in Rheine bestellt?

Definierte Beteiligungsprozesse

Die Erarbeitung von Leitlinien zur Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern steht in diesem Jahr an. Wir GRÜNE fragen: Soll das eine offene Beteiligung für alle Bürgerinnen und Bürger werden?

Wenn ja, dann kann – und darf – die Art der Implementierung der neuen Stadtteilbeiräte jedenfalls nicht Beispiel sein!

Zur Erinnerung: Kurz vor Schluss, nachdem im Sommer schon aufwendig allen potentiell an den Stadtteilbeiräten Interessierten Gesprächsrunden angeboten worden waren, beschließen die aktuellen Mehrheitsfraktionen Änderungen der Hauptsatzung: In den Stadtteilbeiräten können jetzt auch Sachkundige Bürgerinnen und Bürger der Fraktionen stimmberechtigte Mitglieder werden, und alle, die in dem Stadtteil kandidiert haben, werden automatisch nicht- stimmberechtigte Mitglieder.

Das führte dann zu Besetzungen wie im Schotthock, wo neun stimmberechtigte Mitglieder zehn nicht stimmberechtigten gegenüberstehen. Davon gehören insgesamt fünf Mitglieder und ein Sachkundiger Bürger der CDU an. War „offene Beteiligung“ so gemeint? – Die Erfahrungen in den ersten Sitzungen zeigen, dass die Stadtteilbeiräte von der Politik dominiert werden – und damit auch politisch instrumentalisiert werden können. War „offene Beteiligung“ so gewollt?

Wie steht es also mit der Ernsthaftigkeit des Rates, mit der Ernsthaftigkeit der aktuellen Mehrheitsfraktionen in Sachen „Beteiligung“? In der MV stand zu lesen, dass die CDU mehr Bürgerbeteiligung in KUBA fordere! Gleichzeitig brauchte sie aber lange, mit der IG KUBA-Emsaue überhaupt ins Gespräch zu kommen. Anschließend wurde berichtet, da sei der IG mitgeteilt worden, die umstrittene Wiese werde auf jeden Fall bebaut. Da fragen wir uns: Wie kann – ohne im Rahmen des Beteiligungsverfahrens Einwendungen und Gutachten abgewartet und ausgewertet zu haben – eine solche Aussage getätigt werden? Ist das Beteiligungsverfahren also bloße Formsache zur Mitteilung des ohnehin schon Feststehenden?

Und wie wird das nun mit den Leitlinien zur Beteiligung? Sind wir GRÜNE wieder nur in einen Prozess involviert, der am Ende keine Verbesserung bringt- weil er alles beim Alten lässt?

Klare gemeinsam erarbeitete Ziele

Haben wir wirklich das in einem umfangreichen Beteiligungsprozess erarbeitete Integrierte Entwicklungs- und Handlungskonzept (IEHK) eingetauscht gegen das Papier „Unser Rheine 2030“?

Statt einer Strategie, die diesen Namen auch verdiente, enthält dieses Papier nur eine Aufzählung einzelner Handlungsfelder. Die Formulierungen der Zielsetzungen sind zum Teil ebenso allgemein wie nichtssagend: „Der Klimaschutz und der nachhaltige Umgang mit Ressourcen begleiten uns in allen Themen des städtischen Lebens und sind für unsere gemeinsame Zukunft von besonderer Bedeutung…“ Sollen wir das als die Formulierung einer
Strategie verstehen? Sind wir in Rheine wirklich nicht in der Lage, oder sind wir nur nicht Willens, unsere Ziele gewissenhaft und verantwortungsvoll in den Kontext globaler, europäischer und nationaler Entwicklungsziele zu setzen?

Hätte „Unser Rheine 2030“ nicht – mindestens! – die Blaupause werden müssen zur Umsetzung der Klimaneutralität und der UN-Nachhaltigkeitsziele? Stattdessen warten wir auf den Vorschlag der Verwaltung zur Aktualisierung der Klimaziele bis heute; eine erste Berichterstattung wurde von der Tagesordnung des letzten Ausschusses für Stadtentwicklung, Umwelt und Klimaschutz wieder heruntergenommen.

Deshalb haben wir GRÜNE hier mehr finanzielle Mittel gefordert, um Versäumtes nachzuholen und Verschlepptes aufzuholen: sowohl 40.000 € für die von CDU und FDP schon im letzten April beantragte, im Rat aber noch nicht einmal thematisierte Nachhaltigkeitsberichterstattung (als Ausgangspunkt für eine Nachhaltigkeitsstrategie) – als auch für die Stabsstelle Klimaschutz … Und was war die Antwort? – Abgelehnt!

Information und Transparenz

Wesentliche oder „robuste“ Informationen als Grundlage für Entscheidungen sind aus GRÜNER Sicht Voraussetzung für Beteiligung. Doch wie ist es darum in Rheine bestellt? Der Rathausumbau – bei mir heißt der intern nur „Unser 100 Mio. €-Projekt“ – krankt schon an dem Geburtsfehler, dass nicht einmal die Politik von der Verwaltung ausreichend informiert worden ist, denn schon beim Grundsatzbeschluss war klar, dass die 65.000.000 € nicht einzuhalten sind. Diese Zahl basiert nämlich nur auf der Kostenaufstellung; schon nach der Ausschreibung wird das ganz anders aussehen; von der Endabrechnung ganz zu schweigen! Immer noch steht in den Vorlagen des Baubegleitenden Ausschusses diese Zahl von 65.000.000 €. Die kalkulierten Baukostensteigerungen werden retrospektiv aus dem Durchschnitt der letzten fünf Jahre gebildet! Dabei war doch schon vor Corona und den gestörten Lieferketten das System am Ende seiner Leistungsfähigkeit angelangt: Es mangelt schon länger an Sand! Wir haben keinen Kies mehr! Der Kalkabbau steht massiv in der Kritik! Holz ist knapp! Und die Energiepreise steigen! Allein im letzten Jahr sind die Baupreise um 14,7 % gestiegen (Stand November 2021) – Das sind 10 % mehr als in den Vorlagen geschätzt! Und selbst eine Verwaltungsvorlage macht aus dem Ernst der Lage keinen Hehl: „Solche rasanten Entwicklungen sind erschreckend“. In Münster bei der Musikhalle wird gleich mit einer Kostensteigerung von über 20 % gerechnet! Eine ehrliche Kostenkalkulation von Anfang an hätte der öffentlichen Debatte und der Entscheidung der Mehrheit des Rates gutgetan.

Transparenz hätten wir GRÜNE uns auch vom Herrn Bürgermeister in seiner Haushaltsrede gewünscht. Da hätte es anlässlich der Einbringung der Haushaltssatzung einer ehrlicheren Standortbestimmung bedurft. Sie, Herr Dr. Lüttmann, gehen zunächst auf die herausfordernden Corona-Zeiten ein: „In dieser Zeit war es alles andere als einfach, das Zahlenwerk zusammenzutragen. Deshalb danke ich unserem Kämmerer Mathias Krümpel und Jürgen Wullkotte und der Finanzabteilung für die Erstellung des Entwurfes.“ Diesem Dank und dem folgenden an die Kolleginnen und Kollegen“ im Rathaus und in den städtischen Betrieben schließen wir GRÜNE uns ausdrücklich an.

Sie sagen aber auch, wir in Rheine seien bisher gut durch die Krise gekommen. Ist das so?

Wie erging es eigentlich den Schüler*innen in den unterschiedlichen Lockdown-Phasen?

Wie ging es ihren Eltern?

Was machen eigentlich gerade pflegende Angehörige durch?

Was bedeutet Corona für die Situation im Bereich der Inklusion?

Und – die Frage geht an Sie als Kulturdezernent – was heißt Corona für die kulturellen Institutionen und Kulturschaffenden in unserer Stadt?

Ja, unsere Wirtschaft ist bisher „gut durch die Pandemie gekommen“, aber nur, wenn wir das an den Gewerbesteuern messen. Das aber ist – aus unserer Sicht – eine zu starke Engführung des Blicks.

Ihre Bewertung anlässlich der ausführlichen Beschreibung positiver Entwicklungen in der Damloup-Kaserne, dass „wir mit vielen Themen schon kurz vor der Realisierung stehen, die andernorts im Moment nur vage angedacht werden“, trifft aus unserer Perspektive so nicht zu, allein schon, weil das jetzige Projekt doch nur eine 1b-Variante des ursprünglich angedachten weit ambitionierteren Projektes eines Regionalen Kompetenzzentrums zum energieautarken Stadtumbau ist. Wir müssen uns ja nicht gleich mit Kopenhagen vergleichen, da genügt schon der Blick auf das nahe Saerbeck. Dort siedelt sich gerade eine große, klimaneutral aufgestellte Produktion für Wasserstoffsysteme an. Hier in Rheine gibt man sich dagegen stolz darauf, einen Großkonzerns angeworben zu haben, der zielstrebig an der Verdrängung der mittelständischen Ernährungswirtschaft arbeitet.

Wir brauchen eine klarere Standortbestimmung: Wo stehen wir …
in Sachen Corona-Auswirkungen
beim Klimaschutz,
bei der Verteilung der Verkehre?
Eine ehrlichere, transparentere Bilanz erlaubte es nicht nur der Politik, fundierter über die Ziele für unsere Stadt und die notwendigen Maßnahmen zu diskutieren, sondern auch den Bürgerinnen und Bürgern.

Förderung der Diskursfähigkeit:

Zuhören zu können, eigene Argumente darstellen und Entscheidungen hinreichend begründen zu können und zu wollen – das ist aus unserer Sicht die Grundlage für einen offenen Dialog, auch mit der Stadtgesellschaft. Wenn wir von den Bürgerinnen und Bürgern ernst genommen werden wollen, müssen wir uns zuallererst einmal gegenseitig ernst nehmen. Das gelingt aber nur, wenn Entscheidungen nachvollziehbar sind und Entscheidungskriterien offengelegt werden. Tiefpunkt im letzten Jahr war für uns die lapidare Begründung der B-Plan-Änderung des CC-Hotels durch die CDU- Fraktion: „Weil wir das wollen.“ Das nährt die Vermutung, dass eher Einzelinteressen zählen als das Wohl der Gesamtstadt und die Gemeinwohlinteressen.

Auch der Einführung von Instrumenten einer stärkeren Steuerung in Stadtplanung und Bodenpolitik im Rahmen des Wohnraumversorgungskonzeptes haben die Mehrheitsfraktionen leider eine Absage erteilt. Hintergrund für die Einführung solcher Instrumente ist aus GRÜNER Sicht die Lücke zwischen Wissen und Handeln. Der als notwendig eingesehene Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklung (z.B. beim Flächenschutz und bei der Innenentwicklung) trifft im Alltag noch zu oft auf alte Denkmuster, die weiterhin bedient werden. Dann stimmt man im Stadtteilbeirat schon mal in den Ruf nach neuen Baugebieten mit ein. Soll das wirklich eine klare Linie in der Stadtentwicklung widerspiegeln?

Eine positive Entwicklung des letzten Jahres ist die zunehmende Kommunikation über Fraktionsgrenzen, auch über die Grenze zwischen Mehrheit und Opposition hinweg. Immer öfter gelingt ein Austausch der Argumente, und es gibt in einigen Beispielen eine konstruktive Zusammenarbeit zu gemeinsamen Zielen. Als Beispiel möchte ich die Begleitung der Entwicklung von Wohnraum für Menschen mit Behinderung benennen. Für diese Ansätze möchten wir uns bei den Fraktionskolleg*innen ausdrücklich bedanken.

Fazit

Entgegen allen Beteuerungen wird die offene Beteiligung der Bürgerschaft aus unserer Sicht von der Politik nicht ernst genug genommen. Ein Zielekorridor für die von der Bundesrepublik vertraglich vereinbarten Klimaschutz -und Nachhaltigkeitsziele ist nicht zu erkennen. Zu oft werden Bürgerschaft und Rat über wichtige Projekte im Unklaren gelassen, nicht nur weil wichtige Weichenstellungen in die Nichtöffentlichkeit ausgelagert werden. Die (überlebens-)notwendigen Veränderungen der großen Transformation bedürfen des Zusammenwirkens von Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft. Die dazu notwendigen Dialog-Formate müssen wir erst noch entwickeln. Der Blick auf den Haushalt zeigt, dass wir keine Gestaltungmöglichkeiten mehr haben. Es sind in der letzten Legislatur und mit dem Rathausbeschluss am Anfang dieser Legislatur so viele Investitionen in Sanierung und Neubauten beschlossen worden, dass sie bis in die nächste Legislaturperiode Finanzmittel und Arbeitskraft binden. Baumaßnahmen binden – nach unserer Sicht in zu hohem Maße – die finanziellen und personellen Kapazitäten. Hinzukommen die steigende Nettoneuverschuldung und der fehlende strukturelle Ausgleich des Haushalts, auch in den nächsten Jahren. All das lässt für wichtige Zukunftsthemen keinen ausreichenden finanziellen Spielraum mehr. Daher sieht sich die Fraktion von Bündnis 90/ DIE GRÜNEN nicht in der Lage, dieser Haushaltssatzung zuzustimmen.

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